Anmerkungen zur Figur des Mephisto in Goethes Faust-Drama.

© Josef G. Pichler 2000


Conflikt des bösen und guten kann nicht ästhetisch dargestellt werden: denn man muß dem Bösen etwas verleihen und dem Guten etwas nehmen, um sie gegeneinander ins Gleiche zu bringen.1


Das Produktionsprinzip, das Goethe in dieser Notiz aus den Schemata zum siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit ausdrückt, sollte man besonders bei der Betrachtung der Figuren des Faust-Dramas berücksichtigen. Aber nicht nur ästhetische Gründe sprechen gegen eine eindeutige Festlegung von Gut und Böse, sondern auch dramaturgische. In einem Brief an Schiller2 bemängelte Goethe einmal die Unstimmigkeit in Miltons Paradise Lost, dass dort die Figuren „ unbedingt“ als Götter, Engel, Teufel oder Menschen eingeführt werden, dann aber von Zeit zu Zeit, in einzelnen Fällen als „bedingt“ dargestellt werden mussten (durch äußere oder innere Bedingungen), und zwar um sie überhaupt handeln zu lassen. Ein Absolutes handelt nicht, und eignet sich schlecht, eine dramatische Handlung voranzutreiben.

Mephisto vereinigt in sich unterschiedliche, scheinbar unvereinbare Qualitäten: Weltprinzip und lüsternes Individuum, Berater und gleichberechtigter Partner Fausts, mittelalterlicher Teufel und „moderner“ Manager. Aber auch anderen Figuren des Dramas haftet Widersprüchlichkeit an. Nur angedeutet sei hier Fausts Auftreten als mittelalterlicher Magier und als modernes bürgerliches Subjekt, für das Himmel und Hölle nicht mehr die Bedeutung haben, wie für den „historischen“ Faust des Volksbuches. Margaretes Gier nach Gold und Luxus wird scheinbar auch mehr von der Strenge ihrer Mutter eingedämmt, als durch eigene Reinheit und Unschuld.

Mit seiner Figurenkonstitution geht Goethe weit über Lessings seinerzeitige Forderung nach gemischten Charakteren anstelle von Schwarz-Weiß-Malerei hinaus, und fordert sein Publikum umso mehr, als dieses bei der Bewertung der Figuren deren funktionalen Aspekt und den jeweiligen Handlungsrahmen mit bedenken muss. Erst so lässt sich dann vielleicht Fausts „ Erlösung“ einigermaßen nachvollziehen, erst so kann man Mephisto zugleich in seiner Analyse Recht geben und ihn hassen.

Aus der Perspektive des christlichen Sündenbegriffs wäre Faust schuldig. Die Wertvorstellungen einer traditionellen christlichen Ethik erfahren jedoch bereits im Prolog im Himmel eine Umwertung im Sinne der Aufklärung, und sind für das Stück nicht relevant3. Gerade diese Umwertung ist ein Beispiel für die Funktion Mephistos im Stück.

Als Teufelsgestalt mag er aus der Sicht des auslaufenden 18. Jahrhunderts einen Anachronismus darstellen, aber die Relativierung des Guten und Bösen verweist gerade in die Gedankenwelt dieser Zeit. Böses wird nicht mehr nur als absolute moralische Kategorie (Sünde) gesehen, wie sie von Satan, dem Widersacher des guten Gottes, repräsentiert worden ist. Das stetige Verneinen Mephistos gewinnt auch dialektische Züge. Das ständige in Frage stellen des Vorhandenen, schon Erreichten, wird ausdrücklich positiv bewertet (V.317., V.340ff.), während Verharren in selbstzufriedener Untätigkeit zur „Sünde“ im bürgerlichen Sinne wird.

Für Mephisto als Figur lassen sich drei Lesarten bestimmen4, die mit unterschiedlicher Gewichtung konsequent das ganze Stück durchlaufen:

1. Er ist der Spezialteufel der Faust-Sage geblieben, dem es um Fausts Seele geht.

2. Er ist teuflischer „Freund“ und Berater Fausts, nach dem Muster des Marinelli in Lessings Emilia Galotti.

3. Er ist Teil des Teils, der anfangs alles war (V.1439), also in der Welt wirksames Prinzip.

Es gibt also gleichsam eine Außen- und eine Innenperspektive, und das ständige Oszillieren dazwischen machen die Komplexität, aber auch den Reiz dieser Figur aus.

Mit diesem Hintergrund, und einem Bewusstsein von der starken semantischen Aufladung der von Goethe verwendeten Begriffe, versuche ich der Spur Mephistos durch das Faust-Drama zu folgen, ohne etwas Bestimmtes beweisen zu wollen. Vielmehr habe ich mir Ulrich Gaiers Maximen5 zu eigen gemacht, der unter anderem meint, dass Eindeutigkeit gerade nicht das Ziel eines poetischen Textes sei, weshalb ein Kommentar die multiple Lesbarkeit von Szenen und Figuren nicht „vereindeutigen“, sondern offen halten, und ins Bewusstsein der Leserinnen und Leser heben soll.


Bei seiner ersten Begegnung mit Faust, nachdem er Menschengestalt angenommen hat, charakterisiert sich Mephisto selbst:

So ist denn alles, was ihr Sünde,

Zerstörung, kurz, das Böse nennt,

Mein eigentliches Element.

(V.1342-1344)

Diese scheinbar klare Selbstbeschreibung erweist sich auf den zweiten Blick als äußerst vieldeutig. Mit Sünde und Zerstörung sind zwei unterschiedliche Formen von Bösem bezeichnet: ein moralisch Böses, die Fähigkeit des Menschen wider besseres (religiöses) Wissen falsch zu handeln, und die sich in der Welt ständig ereignende Zerstörung von Seiendem, die allerdings mit dem Werden untrennbar verknüpft, geradezu dessen Bedienung ist, und der das Prädikat „böse“ nicht eigentlich zugeschrieben werden kann. Es fällt auch auf, dass Mephisto gar nicht das Böse als sein eigentliches Element bezeichnet, sondern das, was die Menschen das Böse nennen. Er selbst kann sein Treiben nicht als böse anerkennen.

Seinem Wertesystem entsprechend, das er gleich nach der oben zitierten Stelle darlegt (V.1346-1358), spricht er zu Recht dem Existierenden keinerlei Wert zu, betrachtet er es doch als Störfaktor im ursprünglicheren Nichts. Sieht man von der Höherbewertung des Nichts ab, bewegt sich Mephisto durchaus auf traditionellen Pfaden. Sowohl aus mythologischer, als auch aus theologischer und philosophischer Perspektive betrachtet, geht das Seiende als etwas Sekundäres aus dem Nichts hervor6.

Als Agent des Nichts hat er es aber nicht leicht. Die Schöpfung ungeschehen zu machen, die Wiederherstellung eines ewig Leeren (V.11603), das sich dem Kreislauf der Existenz, dem Werden und Vergehen, entzieht, kann von ihm als negative Utopie nur im Konjunktiv formuliert werden: Drum besser wär’s, daß nichts entstünde (V.1341). Auch Faust bleibt dieses Problem nicht verborgen, und er stichelt:

Du kannst im Großen nichts vernichten

Und fängst es nun im Kleinen an.

(V.1360f.)

Wenn Mephisto anschließend über die sisyphosartige Aussichtslosigkeit auch seiner Anstrengungen im Kleinen lamentiert (V.1363ff.), ist zu berücksichtigen, dass seine Aussagen, wenn sie nicht Monolog oder Publikumsansprache sind, immer eine bestimmte Wirkung auf seinen Gesprächspartner ausüben sollen. So macht er sich gegenüber Faust größer als er ist, wenn er sich als Geist der stets verneint (V.1338) vorstellt, obwohl aus dem Prolog im Himmel hervorgeht, dass er nur einer von allen Geistern, die verneinen ist (V.338). Wenn er sich aber einmal, um Faust zu beeindrucken, wichtiger darstellt als er ist, kann seine nunmehrige vorgebliche Bescheidenheit - Ich bin keiner von den Großen (V.1641) - angezweifelt werden, noch dazu wo ihm ursprünglich um seine Wette gar nicht bange war (V.331).

Hinter dem Unwillen Mephistos, die einfache Frage „wer bist du denn?“ (V.1334) eindeutig zu beantworten, verbirgt sich aber nicht nur die Absicht, Faust zu beschwindeln und in falscher Sicherheit zu wiegen, sondern ein grundsätzliches Problem, die Frage nach dem Wesen des Bösen in der Welt überhaupt. Mephistos Selbstdarstellung als zumindest partizipierender Repräsentant einer Macht, die unabhängig von und gleichwertig der des guten Schöpfergottes ist, entspricht einer dualistisch-manichäischen Vorstellung von zwei dauernd im Kampf miteinander stehenden Urprinzipien. Damit im Widerspruch steht, wenn Mephisto, nachdem er sich als Vertreter einer unbedingten Macht eingeführt hat, dessen - aus seiner Sicht - berechtigte Hoffnung es ist, alles Geschaffene wieder ins Nichts zurück stoßen zu können, Faust plötzlich eine christliche, katechismuskonforme Belehrung über die Schöpfung liefert:

O glaube mir, der manche tausend Jahre

An dieser harten Speise kaut,

Daß von der Wiege bis zur Bahre

Kein Mensch den alten Sauerteig verdaut!

Glaub unsereinem, dieses Ganze

Ist nur für einen Gott gemacht!

Er findet sich in einem ew’gen Glanze,

Uns hat er in die Finsternis gebracht,

Und euch taugt einzig Tag und Nacht.

(V.1776-1784)

Hier wird an der Überlegenheit Gottes nicht gezweifelt, das Ganze ist nur ihm verständlich, und auch die finsteren Mächte sind untergeordneter Teil seiner Schöpfung. Man kann aber vermuten, dass hier nicht eine Inkonsequenz des Autors vorliegt. Aus dem eingangs erwähnten dichterischen Produktionsprinzip und Goethes bekannter Ablehnung eines absolut Bösen7 kann geschlossen werden, dass Lüge und Wahrheit für Mephisto keine Kategorien darstellen, und es Goethe bei der Gestaltung der Figur nicht so sehr auf dessen absolute Positionen ankam, sondern mehr auf die Darstellung verschiedener Maskierungen, unter denen das Böse in der Welt in Erscheinung treten kann, die diesem auch in der realen Welt eher entspricht, als eine Festlegung als etwas Absolutes.

Der Grunddisposition der Mephisto-Figur dürfte auch die Satans-Szene, ursprünglich für die Walpurgisnacht bestimmt, in der Endfassung zum Opfer gefallen sein8. Nicht die Personifikation eines absolut gegengöttlichen Prinzips des Satanischen begleitet Faust, sondern eine Figur, die an die Menschenwelt gebunden ist. Dieser Zusammenhang Mephistos mit dem Lebendigen ist allerdings kein geradliniger, und er ist auch insofern Geist des Widerspruchs (V.4030), als er mit sich selbst im Widerspruch steht.


Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,

Und grün des Lebens goldner Baum.

(V.2038)

Wie kann jemand, dessen vorgebliches Ziel die totale Vernichtung alles Seins ist, so sprechen? Ganz ähnlich lautet auch sein Ratschlag am Faust:

Drum frisch! Laß alles Sinnen sein,

Und grad mit in die Welt hinein!

Ich sag es dir: ein Kerl, der spekuliert,

Ist wie ein Tier, auf dürrer Heide

Von einem bösen Geist im Kreis herum geführt,

Und rings umher liegt schöne grüne Weide.

(V.1828-1833)

Der Kerl der „spekuliert“ - Faust im Studierzimmer - und von einem bösen Geist herumgeführt wurde, soll ausgerechnet von Mephisto geführt, in fruchtbare Gefilde, ins pralle Leben aufbrechen. Dieser seltsame Gedanke entspricht aber, auf das Ganze des Dramas bezogen, sowohl dem Wollen Fausts, als auch dem Programm Mephistos, die sich in diesem Punkt überschneiden. Beider Interesse ist das Leben, wenn auch aus verschiedenen Motiven, und ohne diesem könnte eine Wette, ein Pakt, gar nicht zustande kommen.

Mit den Wetten, die Mephisto mit dem Herrn und Faust abschließt, hat er, so scheint es, kein Glück. Der jeweilige Kontrahent schränkt ein, bzw. nimmt die Wette formal gar nicht an (der Herr), oder diktiert die Wettbedingungen (Faust). Ersterer steht darüber hinaus am Ende als Wettpartner gar nicht mehr zur Verfügung, und Faust richtet sich durch äußerst geschicktes Formulieren - schließlich hat er ja auch „Juristerei durchaus studiert“ (V.355), eine Hintertür ein, die später doch noch seine Erlösung möglich macht. Sein Fluch auf alles Irdische, seine Absage an die christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe (V.1583-1606) gehören formal zum Ritual des Teufelspakts. Man kann das nun als „ völlige Absage an alles dem Menschen und bisher auch Faust Heilige“ lesen9, aber die Absage ist in eine mehrfach lesbare „Wenn..., so...“-Formulierung gekleidet. Sie könnte also auch die Bedingung beinhalten: „Wenn ich damals betrogen worden bin, dann fluche ich jetzt“.10 Faust hätte so Pascals berühmte Wette11 umgedreht. Dieser meinte, wenn man darauf setzt, dass es keinen (christlichen) Gott gibt, verliert man nichts, wenn es ihn nicht gibt, aber alles, wenn es ihn doch gibt. Setzt man auf die Existenz Gottes, verliert man nichts, wenn es ihn nicht gibt, gewinnt aber alles im Fall seiner Existenz. Für Pascal geht daraus logisch hervor, man müsse leben, als gäbe es einen Gott. Fausts „Verfluchung“ sähe nun so aus: „Wenn mich die Osterbotschaft und die Erinnerung an meinen Glauben betrogen hat (V.742-784), dann verfluche ich alles, auch das Christentum samt seinen Tugenden. Aber wenn es Gott gibt, hat der Fluch keine Geltung, ich bin nicht betrogen worden.“

Weil seine geschickte Formulierung aber auch nicht als Bedingung gelesen werden kann, reicht sie für den Teufelspakt aus. Mephisto sieht das so, und ist zufrieden. Er erkennt nicht den „Pferdefuß“, den die Wette mit Faust beinhaltet, und der seine Gewinnchancen untergräbt. Mephisto scheint auch nicht zu bemerken, dass ihm mit Faust nicht mehr ein unbedarfter, blind gläubiger Mensch gegenüber steht, wie Hiob einer war, über den im fernen Himmel eine Wette abgeschlossen wurde, von der dieser nichts ahnte, sondern ein modernes, selbstbewusstes Subjekt, das mit seiner Wette gleichsam die Rolle des Gottes Hiobs übernimmt, am Ende sogar dessen Schöpfungstätigkeit übernehmen will. Der neuzeitliche Faust ist Subjekt seines Schicksals, wenn auch -worauf der Prolog im Himmel ironisch hinzuweisen scheint - nicht ganz. Wenn Hans Arens aber die Wette als überflüssig betrachtet12, bedenkt er nicht, dass durch sie erst die Möglichkeit eröffnet wird, dass Mephisto verliert, oder zumindest nur halb gewinnen kann wie es Goethe einmal formuliert hat13.


Die Ausrichtung Mephistos auf das Leben ist schon im Prolog im Himmel angelegt. In dieser an das Buch Hiob14 angelehnten Szene wird, ähnlich wie dort Hiob, Faust vom Herrn dem Mephisto „überlassen“ (V.323) . Allerdings mit der schon erwähnten Einschränkung, dass er nicht ausdrücklich die Wette annimmt, und als Bedingung geltend macht:

So lang er auf der Erde lebt,

So lange sei dir’s nicht verboten.

(V.315f.)

Mephisto greift in seiner Antwort nicht diese Eingrenzung auf, sondern den Bezug auf Fausts Lebenszeit, und meint fast begeistert:

Da dank ich Euch; denn mit den Toten

Hab ich mich niemals gern befangen.

Am meisten lieb ich mir die vollen, frischen Wangen.

Für einen Leichnam bin ich nicht zu Haus;

Mir geht es wie der Katze mit der Maus.

(V.318-322)

So wie die Katze sich am Spiel mit der Maus erfreut, bevor sie sie verspeist, freut sich Mephisto am Spiel, an der Täuschung und Irreführung seiner Opfer, bevor - ja was eigentlich? Was bedeutet für jemanden, dem Sonne und Welten nichts bedeuten (V279), der sein Interesse am Lebendigen so betont, eine Seele? Hätte er überhaupt etwas davon, oder wäre mit dem Tod seines Opfers sein „Job“ erledigt und müsste er die Beute ohnedies an seine übergeordnete Instanz abführen, die im Stück doch auch im Hintergrund präsent zu sein scheint, und der er in der Walpurgisnacht scheinbar lieber aus dem Weg geht?

Die Schadenfreude, die er bei seinem Spiel empfindet, braucht lebende Menschen, die sich des Schadens bewusst werden. Als Schalk wird er vom Herrn bezeichnet (V.339), und als solcher kann er nichts wirklich ernst nehmen. Ironie und Spott sind ihm eigene Wesensmerkmale, und wenn er Faust vom Bösen ablenkt, indem er ihm die jungen Hexchen, nackt und bloß schmackhaft machen will, scheint es, als betrachte er sogar das von ihm (auch) verkörperte Prinzip des Teuflischen nur mit Ironie (V.4041ff.).

Am Ende von Fausts Leben, nachdem der himmlische Chor erklärt hat: es ist vorbei, nimmt Mephisto einen eigenartigen Standpunkt ein und sagt:

Vorbei! ein dummes Wort.

Warum vorbei?

Vorbei und reines Nicht, vollkommnes Einerlei!

Was soll uns denn das ew’ge Schaffen!

Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen!

»Da ist’s vorbei!« Was ist daran zu lesen?

Es ist so gut, als wär es nicht gewesen,

Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre.

Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.

(V.11595-11603)

Mitleid mit Faust schimmert durch, er identifiziert sich (was soll uns denn das ew‘ge Schaffen) mit den Menschen, und der Vergeblichkeit all ihrer Bemühungen. Obwohl es doch seine Hauptaufgabe war, Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen, verfällt er in Melancholie, anstatt zu triumphieren.

Es ist bemerkenswert, dass sich Mephistos Anklagen gegen den Herrn und seine Welt auf ein Mitgefühl für die Menschen und deren - aus seiner Sicht - erbärmliches Schicksal auf Erden stützt. Er spricht, wie auch an anderer Stelle, von uns (V.272), identifiziert sich mit den Leidenden. Die Macht Gottes akzeptiert er zwar (Und hüte mich, mit ihm zu brechen [V.351] ), aber nicht dessen Werk. Besonders die Menschen und ihr Verhalten hält er für eine misslungene Schöpfung. Durchgängig bezeichnet er sie als Narren, auch Faust ist für ihn nur ein Tor (V.301), wenn auch ein besonders gearteter. Vor allem der falsche Gebrauch der Vernunft durch die Menschen wird von ihm kritisiert, und er wirft dem Herrn vor:

Ein wenig besser würd er leben,

Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;

Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,

Nur tierischer als jedes Tier zu sein.

Er scheint mir, mit Verlaub von Euer Gnaden,

Wie eine der langbeinigen Zikaden,

Die immer fliegt und fliegend springt

Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt;

Und läg er nur noch immer in dem Grase!

In jeden Quark begräbt er seine Nase.

(V.283-292)

Ein mehrfacher Bezug zu Leibniz und der Theodizee-Problematik, die im 18. Jahrhundert in der philosophischen Diskussion eine prominente Rolle gespielt hat, lässt sich von Mephistos erster Wortmeldungen in Prolog im Himmel knüpfen:

Es giebt auch noch einen besondern Grund für die scheinbare Unordnung in Betreff des Menschen; (vgl. V.296) er liegt in dem Geschenke der Ebenbildlichkeit Gottes, welches ihm gewährt worden, indem ihm die Vernunft gegeben worden (vgl. V.284). Gott lässt den Menschen in seinem kleinen Bezirk wirthschaften, damit er das Sparta, was er erlangt, schmücke. Gott wirkt dabei nur in verborgener Weise (vgl. V.271), indem er dem Menschen das Sein, das Leben, die Vernunft gewährt, ohne sich sehen zu lassen. Hier treibt der freie Wille sein Spiel (vgl. V.285) und Gott erfreut sich, so zu sagen, an diesen kleinen Göttern, deren Erschaffung er für gut befunden, so wie wir uns an den Thätigkeiten der Kinder erfreuen, die wir unter der Hand bald befördern, bald hemmen, wie es uns gefällt. Der Mensch ist daher ein kleiner Gott in seiner eignen Welt (vgl. V.281), oder in dem Mikrokosmos, den er nach seiner Weise regiert; er bringt mitunter Wunderbares zu Stande und seine Kunst ahmt oft die Natur nach.

»Als Jupiter im kleinen Glase die Oberwelt schaute

Lachte er (vgl. V.278) und sprach folgendes zu den Göttern:

So weit ist schon die Macht der Sterblichen gelangt?

Schon wird meine Arbeit in dem gebrechliche

Erdkreis verlacht

Die Mächte des Pols, die Zuverlässigkeit der

Dinge, die göttlichen Gesetze

Das alles hat der Greis von Syracus durch seine

Kunst überliefert,

Was wundere ich mich über den unschuldigen

Salmoneus mit seinem nachgemachten Donner?

Die kleine Hand wetteifert mit der Natur.«15

Leibniz setzt sich in seiner Theodizee unter anderem heftig mit Pierre Bayle auseinander. Wenn er Bayle zitiert, findet sich dort die Grundlage der Kritik Mephistos: Es wäre kein vernünftiger Gott, der dem Menschen Vernunft gibt, gleichzeitig aber deren falschen Gebrauch zulässt.

»Die Wohlthaten, welche Gott den, der Glückseligkeit fähigen Geschöpfen erzeigt, sollen nur deren Glück befördern. Gott gestattet deshalb nicht, dass sie zu deren Unglück benutzt werden, und wenn der schlechte Gebrauch, welchen sie davon machen, sie in's Verderben führen könnte, so würde er ihnen sichere Mittel für einen blos guten Gebrauch derselben gewährt haben, da ohnedem es keine wirklichen Wohlthaten sein würden und Gottes Güte dann geringer sein würde, als man sie bei einem andern Wohlthäter sich vorstellen könnte. (Ich meine, bei einer Ursache, die mit ihren Geschenken zugleich die sichere Geschicklichkeit, sich ihrer gut zu bedienen, gewähren würde.)«16

Ein vernünftiger Gott hätte den Menschen, wenn er sie schon an seiner Vernunft teilhaben lässt, auch die „ Werkzeuge“ zu deren richtiger Verwendung mitgeben müssen. Für Leibniz waren solche Gedanken Blasphemie, ihm ging es schließlich um den Nachweis, Gott habe mit dieser Welt die Beste aller Möglichen geschaffen, und er meinte etwas unscharf, das Böse, die Übel in der Welt führen zuletzt - auf das Universum bezogen - zu einem noch größeren Guten. Den Beweis seiner Argumente blieb er allerdings schuldig, und erklärte seinen Lesern unwirsch:

Ich kann dies nicht im Einzelnen darlegen; denn wie könnte ich diese zahllosen Welten kennen und darstellen und mit einander vergleichen? Vielmehr muss man mit mir ab effectu urtheilen; weil eben Gott diese Welt, so wie sie ist, erwählt hat.17

Gottes Vollkommenheit, die durch die Theodizee erst zu beweisen gewesen wäre wurde hier vorausgesetzt. Das Problem wurde als Lösung dargestellt.

Der Herr in Prolog lässt sich aber ohnehin nicht auf eine Argumentation ein, und meint, bei Faust legen die Dinge anders, er habe alle Aussicht aus seiner Gährung (V.302), aus der Verworrenheit zur Klarheit zu gelangen (V.308f.).

Mephisto hingegen handelt im Fall Fausts durchaus konsequent in Bezug auf sein vorgebliches Mitleid mit den sich plagenden (V.280) Menschen. Staub soll er fressen, und mit Lust (V.334). Das hieße, ihn von der „Last“ seiner Vernunft befreien, ihn auf seine tierische Existenz zu reduzieren und wieder in Einklang mit sich selbst zu bringen (mit „Lust). Auch eine Art von Erlösung?


Wenn alle drei Lesarten der Figur Mephistos18 auch das ganze Stück durchziehen, ist in der Gewichtung doch ein Trend zu erkennen, der dem bei Faust entgegengesetzt ist. Während Faust in Teil I als Individuum mit seinen inneren Problemen (Zweifel, Erkenntnisfragen, Liebe) dargestellt wird, kann er durch seine Aktivitäten in der großen Welt und die schließlich doch noch mögliche Erlösung als Stellvertreter für die Menschheit interpretiert werden. Dagegen geht die Entwicklung des Mephisto umgekehrt, vom Weltprinzip zum Individuum.

Die scheinbar von ihm (im Prolog im Himmel) akzeptierte Überlegenheit des Herrn wird zugleich konterkariert. Nachdem die vertrauliche Anrede Da du, o Herr dich wieder einmal nahst (V.271) Gleichrangigkeit suggeriert, verfällt Mephisto, sobald die Rede auf Faust kommt, auf ein unterwürfigeres „ihr“. Er protestiert auch nicht gegen die Herabstufung auf ein „Anregungsmittel für die menschliche Produktivität“, und die Einstufung als Schalk19. Mephisto hält seine spitze Zunge im Zaum, trotz der fast demütigenden Belehrung über seine Funktion (V.336-342). Allerdings gesteht der Herr Mephisto auch eine gewisse Autonomie zu (V.336)20. Kaum ist der Herr außer Sichtweite, nennt er ihn respektlos den Alten (V.350), und deutet an, die Beziehung zu ihm jederzeit aufheben zu können (V.351). Ein klares Herr-Knecht-Verhältnis ist daraus nicht ablesbar, eher ein Gespräch zweier Diplomaten, die mit gewählten Formulierungen den jeweils anderen für ihre eigenen Ziele einspannen wollen. Insgesamt betrachtet, kann man aber sagen, dass sowohl aus der Sicht des Herrn als aus seiner eigenen, die Funktion Mephistos hier eher prinzipiell zu bewerten ist, und das Verhältnis Herr-Mephisto nicht auf einseitige Abhängigkeit, und Mephisto nicht bloß auf die Rolle des „dummen Teufels“ reduziert werden kann21.

Von dem Moment an, als er vor Faust Menschengestalt angenommen hat, tritt Mephisto in unterschiedlichen Maskierungen auf, aber immer als Individuum, als Berater nach dem Vorbild Marinelli22, als jemand der Gelegenheiten und Umstände schafft, damit Böses passieren kann. Er erscheint als Individuum, ist zugleich aber als solches nie ganz zu fassen.

Vollends zum Individuum wird er erst am Ende des Stücks. Hier wird er, obwohl er schlimmes ahnt (V.11725), von der Liebe, die sich in homophile Lüsternheit steigert, übermannt, von seinem eigentlichen Geschäft abgelenkt und steht zum Schluss als Geprellter da (V.11753-11800). Zwar kann er die edlen Teufelsteile (V.11813) noch einmal retten, dennoch eröffnet dieses Bild die Perspektive, dass das Böse selbst durch die Liebe überwunden werden kann, dass auch Mephisto selbst erlösungsfähig ist. Das Gute hat im Kampf gegen das Böse einen „Punktesieg“ davongetragen, und es bleibt offen, ob es jemals zu einem finalen Showdown kommen wird.


Bei der Betrachtung einer einzelnen Figur des Faust-Dramas gelangen natürlich viele Aspekte des Stücks nicht in den Blickpunkt. Zusammen mit den fragmentarischen Vorstufen hat es Goethe sechzig Jahre seines Lebens beschäftigt, eine Zeitspanne, die die Literaturwissenschaft in drei literarische Epochen einteilt. Es spiegelt jahrtausendealte Mythen und moderne technische, ökonomische und soziale Tendenzen ineinander. In seinen intertextuellen Bezügen und den wechselnden, dem jeweiligen Handlungsrahmen angepassten Metriken erinnert es die gesamte Weltliteratur. Der Gedanke an eine endgültige Interpretation einzelner Figuren, Szenen, oder gar des gesamten Dramas ist daher reichlich gewagt. Viel mehr der Sachlage zu entsprechen scheint mir Gaiers Lesartenmodell23, das, unterschiedlichen Erkenntnisinteressen entsprechend, bestimmte Aspekte eben bevorzugt behandelt, und dabei auch in Kauf nimmt, nicht alle Widersprüche restlos klären zu können. Das war es auch, was ich am Beispiel Mephistos versucht habe zu zeigen.



Bibliographie


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Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Reclam-Universal-Bibliothek Nr. 2, Stuttgart 1971.

Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie erster Teil. Reclam-Klassiker auf CD-ROM Nr. 1, Stuttgart 1999.

Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Reclam-Klassiker auf CD-ROM Nr. 24, Stuttgart 1999.


Arens, Hans: Kommentar zu Goethes Faust I. Heidelberg 1982.

Best, Otto F. und Schmitt, Hans-Jürgen [Hrsg.]: Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Bd.6: Sturm und Drang und Empfindsamkeit. Reclam-Universal-Bibliothek 9621, Stuttgart 1991

Friedrich, Theodor / Scheithauer, Lothar J.: Kommentar zu Goethes Faust. Reclam-Universal-Bibliothek Nr. 7177, Stuttgart 1980.

Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang Goethe - Faust-Dichtungen. Band 1: Texte. Stuttgart 1999.

Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang Goethe - Faust-Dichtungen. Band 2: Kommentar I, Stuttgart 1999.

Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang Goethe - Faust-Dichtungen. Band 3: Kommentar II, Stuttgart 1999.

Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Theodicee. In: Schlüsselwerke der Philosophie, Digitale Schülerbibliothek. CD-ROM hrsg. von DIRECTMEDIA Publishing GmbH, Berlin 1999.

Pascal, Blaise: Gedanken =Pensées / Blaise Pascal. Übersetzt und eingeleitet durch Bruno von Herber-Rohow, mit Einführung von Rudolf Eucken, Bd.2 [Gedanken über die Religion], Jena 1905.



1.Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887-1919. Nachdruck: dtv, München 1987, I, 27, S.389.

2.Goethes Werke. WA IV, 14, S.142f.

3.Mit Ausnahme vielleicht der Gretchen-Tragödie, hier aber negativ, durch den Druck einer „christlichen“ Gesellschaft und ihres Sündenbegriffs auf eine ledige, schwangere Frau (Vgl.: V.3544ff. Und V.3638ff.).

4.Vgl.: Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang Goethe - Faust-Dichtungen. Band 3: Kommentar II, Stuttgart 1999, S.781.

5.Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang Goethe - Faust-Dichtungen. Band 2: Kommentar I, Stuttgart 1999, S.11ff.

6.Im griechischen Mythos waren die Nacht und das Chaos zuerst da, der jüdisch-christliche Gott schöpft die Welt aus dem Nichts, und bei Hegel negiert sich das Nichts im Werden und wird zum Sein.

7.Vgl.: Goethes Rede zum Shakespeare-Tag. In: Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Bd.6: Sturm und Drang und Empfindsamkeit. Hrsg. von Otto F. Best und Hans-Jürgen Schmitt, Reclam-Universal-Bibliothek 9621, Stuttgart 1991, S.47-52, bes. S.51.

8.Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang Goethe - Faust-Dichtungen. Band 1: Texte. Stuttgart 1999, S.625ff.

9.Friedrich, Theodor / Scheithauer, Lothar J.: Kommentar zu Goethes Faust. Reclam-Universal-Bibliothek Nr. 7177, Stuttgart 1980, S.184.

10.Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang Goethe - Faust-Dichtungen. Band 3: Kommentar II, Stuttgart 1999, S.666.

11.Vgl. Pascal, Blaise: Gedanken =Pensées / Blaise Pascal. Übersetzt und eingeleitet durch Bruno von Herber-Rohow, mit Einführung von Rudolf Eucken, Bd.2 [Gedanken über die Religion], Jena 1905. Die Wette in ihrer mathematisch-logischen Form siehe Internet: http://www.franken.de/users/doboz/edu/scripts/pensees.html

12.Vgl.: Arens, Hans: Kommentar zu Goethes Faust I. Heidelberg 1982, S.185.

13.Brief an Karl Ernst Schubarth vom 03.11.1820. In: Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Reclam-Klassiker auf CD-ROM Nr. 24, Stuttgart 1999.

14.Hiob 1, 6-12

15.Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodicee. §147. Schlüsselwerke der Philosophie, Digitale Schülerbibliothek. CD-ROM hrsg. von DIRECTMEDIA Publishing GmbH, Berlin 1999. Das von Leibnitz zitierte Gedicht stammt von Claudius Claudianus.

16.Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodicee. §119. Schlüsselwerke der Philosophie, Digitale Schülerbibliothek. CD-ROM hrsg. von DIRECTMEDIA Publishing GmbH, Berlin 1999.

17. Ebd. §10.

18.Vgl. oben, S.2.

19.Schalk bedeutet in seiner ahd. Und mhd. Formen auch Knabe, Knecht, Unfreier (vgl. Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang Goethe - Faust-Dichtungen. Band 3: Kommentar II, Stuttgart 1999, S.529.).

20.Wenn man den Schwerpunkt auf frei legt, und nicht auf erscheinen.

21.Aus der dann Arens die Überflüssigkeit Mephistos ableitet (vgl. Arens, Hans: Kommentar zu Goethes Faust I. Heidelberg 1982, S.61.).

22.Vgl. oben, S.2.

23.Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang Goethe - Faust-Dichtungen. Stuttgart 1999.